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Kultur

Neu auf Uelzener Nachrichten: Mitglieder des Fördervereins „Bibliothek im Griepe-Haus“ zu Bad Bevensen e.V. stellen ihre Lieblingsbücher vor - Heute: Sabine Simon mit „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

 |  Kunst & Kultur

Bad Bevensen. Mein aktuelles Lieblingsbuch beginnt mit einem Zusammenbruch. Ausgerechnet als sie einen wichtigen Vortrag halten will, erleidet Linn einen Kreislaufkollaps. Annett, die Mutter, holt sie zu sich nach Hause. Und Linn, die das Elternhaus in dem 1300-Seelen-Nest nahe der Nordsee einst gar nicht schnell genug verlassen konnte, bleibt. Erst ein paar Wochen, dann Monate. Sie ist jetzt Mitte 20 und hatte vor kurzem in Berlin ihren ersten festen Job nach dem Studium angetreten. Nachhaltige Aufforstungsprojekte – genau das, was sie machen wollte.

Annett genießt das unerwartete Zusammensein mit der Tochter. Aber bald schleicht sich in die vertrauten Gespräche ein gereizter Ton. Linn beantwortet Fragen nach ihrem Leben nur zögerlich. Die Mutter ist besorgt, aber auch zunehmend genervt von einer Lethargie, die sie bei der Tochter bislang nicht kannte. 

Annett ist 49 Jahre alt und arbeitet seit vielen Jahren als Bibliothekarin, auch wenn das eigentlich nur ein Übergang sein sollte. Sie hat die Tochter alleine großgezogen, andere Männer gab es in ihrem Leben nur sporadisch. Mutter und Tochter treffen in einer Zeit aufeinander, in der es für beide um Veränderung geht. Linn scheint das klarer zu sein als ihrer Mutter. Auch wenn Annett und Linn biografisch an sehr unterschiedlichen Punkten stehen, korrespondieren ihre jeweiligen Themen miteinander. Das schärft die wechselseitige Wahrnehmung, macht die Gespräche zwischen ihnen intensiver, befördert aber auch eine Dünnhäutigkeit, die für beide anstrengend ist. 

Wir folgen der Handlung durch die Perspektive der Ich-Erzählerin Annett. Hören von neuen Nachbarn, die in einer ungewöhnlichen Konstellation ins Nebenhaus gezogen sind, und davon wie auch Annett immer wieder mit einer quälenden Antriebslosigkeit zu kämpfen hat. Von Linn erfahren wir immer nur so viel, wie ihrer Mutter erzählt – und das ist wenig. Aber mit der Zeit erschließt sich der Leserin, dass der Kreislaufkollaps von Linn nicht nur Zufall war, sondern im Zusammenhang steht mit enttäuschten Erwartungen und der unerbittlichen Konfrontation mit einer Wirklichkeit, in der es mehr um Ökonomie als Ökologie geht. 

Die Autorin entwirft mit kurzen, klaren Sätzen die Momentaufnahme im Leben von zwei Menschen, das für einige Monate zwar nicht stillsteht, aber doch deutlich verlangsamt erscheint. Manchmal wird erst beim zweiten Lesen deutlich, wie fein Sprache und Handlung aufeinander abgestimmt sind. Die kurzen, klaren Sätze passen zur nüchternen Landschaft Nordfrieslands. Fast immer entwickeln sich die Dinge hier langsam und selten spektakulär. Trotzdem weiß jeder um die Gefahren des Meeres und kennt die Geschichten, die nicht gut ausgegangen sind. Auch Annett war schon immer hin und hergerissen zwischen dem Zutrauen zu ihrer Tochter und der Sorge, etwas zu übersehen. Mit ihrem Blick verfolgen wir nicht nur den Fortgang der Geschichte, sondern begleiten sie auch zurück in die Zeit mit ihrem Mann Johan, hören von seinem frühen Tod, der von ihr aber nie so benannt wurde. 

„Der Tag, an dem Johan nicht wiederkam“, ist die Umschreibung, mit der ihre Tochter aufgewachsen ist. In ihren inneren Dialogen ist Johan weiter präsent, und mit seiner Stimme wird es Annett möglich, sich kritisch mit ihrer Beziehung zu Linn und auch mit ihrem eigenen Lebensentwurf auseinanderzusetzen. Wollte sie wirklich nur, dass Linn ein glückliches und erfolgreiches Leben führt? Oder sollte die Tochter es auch stellvertretend für sie selbst tun und damit den Preis rechtfertigen, den die Mutter gezahlt hat, als sie über viele Jahre eigene Wünsche zurückgestellt hat? Und ist es die Sorge um Linn, die scheinbar untätig durch die Tage geht, oder hält sie es nicht aus, ihre Tochter in ähnlicher Ratlosigkeit zu erleben, wie sich selbst? Auch Linn fängt an, diese Fragen zu stellen. Nicht nur symbolisch holt sie fast vergessene Erinnerungen aus dem Keller, und sie wirft eine alte Regel über den Haufen, die Gespräche über schmerzhafte Ereignisse bisher verhindert hatte.

Für ihren Roman hat die Autorin in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesser bekommen. Die Jury befand, Kristine Bilkau trage „sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern“. 

Ich bin auf den Roman über einen anderen Autor aufmerksam geworden, der medienwirksam seine Auffassung kundtat, den Preis mehr verdient zu haben als Bilkau. Sein Buch kenne ich nicht. „Halbinsel“ aber ist ein Roman, der mir Lust macht, ihn auch ein zweites Mal zu lesen. Mir gefällt die langsame Intensität, mit der die Geschichte sich entwickelt, und beeindruckt hat mich, wie kunstvoll die Autorin unterschiedliche Ebenen miteinander verbindet. Hoch politische Themen wie das Green-Washing von Unternehmen korrespondieren mit der ganz persönlichen Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung. Dabei geht es um gesellschaftliche Fragen, die sich nicht nur Eltern stellen. Welche Lebensentwürfe können wir verwirklichen, welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, und was ist am Ende wirklich wichtig? Auch als Mutter eines erwachsenen Sohnes habe ich mich hier wiederentdeckt und war beeindruckt, wie viele meiner eigenen Fragen in dieser Geschichte thematisiert wurden.

Der Autorin schafft es, dem ruhigen Erzählstrom an keiner Stelle zu unterbrechen. Sie verzichtet konsequent auf Erklärungen oder Wertungen, und es ist ausschließlich der Blick der Ich-Erzählerin, der die Verbindungen schafft und den Ereignissen ihre Bedeutung gibt. Das könnte langweilig sein, ist es aber nicht. Im Gegenteil. Die Geschichte entwickelt einen ganz eigenen Sog, und man möchte unbedingt erfahren, wie es weitergeht. Schaffen es die Protagonistinnen, die Chancen zu nutzen, die sich durch die unverhoffte Unterbrechung ihres Alltags ergeben haben? Und natürlich möchte man wissen, wie die zarte Liebesgeschichte mit Levin, dem Mann aus dem Nachbarhaus, weitergeht. Aber das ist nicht die Hauptsache in diesem Buch, das mich so zufrieden zurücklässt, wie ein Tag am Nordseestrand. Dort kommt es schließlich auch nicht darauf an, ob am Abend gerade Ebbe oder Flut ist. Denn man weiß ja: nichts bleibt, wie es ist, und irgendwie geht es doch immer weiter.

Kristine Bilkau: Halbinsel, erschienen bei Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random Verlagsgruppe GmbH, München 2025

Über die Rezensentin Sabine Simon:

Ich bin geborene Bremerin, lebe seit 2020 in Bad Bevensen und unterstütze mit viel Vergnügen den Förderverein Bibliothek im Griepe-Haus, inzwischen als Mitglied des Vorstands. Die Veranstaltung „Mein Lieblingsbuch“ lasse ich nur ausfallen, wenn es gar nicht anders geht.

Grafik: Penguin/Luchterhand Literaturverlag