Polizei räumt Kirchenasyl - Russische Familie abgeschoben
- Subtitle: Bienenbüttel
Bienenbüttel. Am späten Sonntagabend (12. Mai 2024) löste die Polizei in Zusammenarbeit mit der Landesaufnahmebehörde ein Kirchenasyl in der St.-Michaelis-Gemeinde Bienenbüttel (Kirchenkreis Uelzen) auf.
Mit einem Durchsuchungsbeschluss, der für das Gemeindehaus, das Pfarrhaus sowie alle zugehörigen Gebäude galt, verschafften sich die Ermittlungsbehörden Zutritt zur Gemeindehauswohnung, in der eine aus Russland stammende, vierköpfige Familie untergebracht war. Nach der Festnahme wurde die Familie in der Nacht per Flugzeug nach Spanien abgeschoben. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat das Land Niedersachsen damit ein Kirchenasyl durch den Einsatz der Polizei beendet und die Schutzsuchenden abgeschoben.
Der Evangelisch-lutherische Kirchenkreis Uelzen erklärt dazu in einer Stellungnahme:
„Wir sind geschockt vom Vorgehen der Landesaufnahmebehörde. Der Zugriff und die Festnahme der Familie an einem Sonntag und die Missachtung des Kirchenasyls per se erschüttert und erschreckt uns zutiefst. Dass die medizinische Situation der jetzt abgeschobenen Frau in der Begründung des Durchsuchungsbeschlusses und bei der Bewertung des Asylverfahrens keinerlei Beachtung gefunden hat, zeigt, wie willkürlich bei der Umsetzung von Abschiebungen vorgegangen wird“, sagt Tobias Heyden, Pastor der Kirchengemeinde Bienenbüttel.
In den späten Abendstunden des Sonntags, 12. Mai 2024, sah sich Pastor Tobias Heyden mit einem massiven Polizeiaufgebot konfrontiert. Das Pfarrhaus, in dem sich auch die Privaträume der Pfarrfamilie befinden, wurde mit mehreren Fahrzeugen blockiert und das Gemeindehaus der Kirchengemeinde war durch ca. 10 bewaffnete Polizeibeamte umstellt. Per Durchsuchungsbeschluss verschafften sich die Beamten Zutritt zur Gemeindehauswohnung, in der die Familie untergebracht war. Es folgte die Festnahme. Im Anschluss wurde die Familie zum Flughafen Köln/Bonn gebracht und von dort mit einem Flug nach Barcelona abgeschoben.
Die abgeschobene Familie landete am frühen Montagmorgen in Spanien. Letzte Telefonate mit den Angehörigen in Deutschland wurden ihnen am Kölner Flughafen verweigert. Die deutschen Behörden hatten die spanischen Behörden offenbar vorab nicht über die Abschiebung informiert. Dieses führt dazu, dass die Familie in Spanien auf sich allein gestellt ist. Die Kirchenkreissozialarbeit des Kirchenkreises Uelzen versucht jetzt, Kontakte zu Hilfsorganisationen vor Ort herzustellen.
Hintergrund zum Asylgesuch
Die aus Russland stammende Familie, ein Elternpaar mit einem erwachsenen Sohn und einer 16-jährigen Tochter, war mit spanischem Visum auf der Durchreise in Deutschland bei Verwandten, als in ihrem Zuhause in Russland der Einberufungsbefehl für Vater und Sohn eintraf. Für die Familie war klar, dass sie sich nicht an dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beteiligen wollen. Sie beantragten deshalb in Deutschland Asyl. Verwandte und Freunde im Landkreis Uelzen boten ihnen dabei Sicherheit und ein stabiles Umfeld, um in dieser herausfordernden Situation zu bestehen. Dennoch erkrankte die Mutter aufgrund der psychischen Belastungen schwer und begab sich in stationäre und langwierige medizinische Behandlung, um stabilisiert zu werden. Im Rahmen des Dublin-II-Abkommens lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag der Familie trotz der laufenden medizinischen Behandlung ab. Als letzte Möglichkeit wandte sich die Familie an die Propstei und die Diakonie des Kirchenkreises Uelzen.
Die behandelnden Ärzte erkannten den Verbleib der Familie in Deutschland als notwendigen stabilisierenden Faktor, um die medizinische Behandlung der Mutter abschließen zu können. Die Propstei und die Kirchenkreissozialarbeit des Kirchenkreises Uelzen prüften den Fall dann sorgfältig. Unter Hinzunahme des ärztlichen Gutachtens und der fachspezifischen Stellungnahmen zum Gesundheitszustand der Mutter, der positiven Prognose zur Integration der Familie, der Arbeitsangebote für Vater und Sohn und der gelungenen Eingliederung der Tochter in den laufenden Schulbetrieb des Lessing-Gymnasiums Uelzens erachteten sie das Kirchenasyl für sinnvoll.
Die St.-Michaelis-Gemeinde Bienenbüttel konnte zu diesem Zeitpunkt entsprechenden Raum im Gemeindehaus der Kirchengemeinde anbieten und übernahm das Kirchenasyl nach Absprache mit der zuständigen Ansprechperson der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen und meldete dies ordnungsgemäß dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Kirchenasyl
In einzelnen Fällen kommt es vor, dass Kirchengemeinden Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, vorübergehend in kirchlichen Räumen aufnehmen. Die Gewährung eines „Kirchenasyls“ ist oft die letzte Möglichkeit, um in einem konkreten Einzelfall für die Geflüchteten Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden, eine drohende Gefahr für Leib und Leben im Rückkehrland abzuwenden oder Rechtsmittel auszuschöpfen. Nach dem im Bereich der EU geltenden „Dublin-II-Abkommen“ geht es in den allermeisten Fällen um eine Rücküberstellung in den Ersteinreisestaat, nicht um eine Abschiebung ins Herkunftsland. Dennoch kann es auch innerhalb von Europa zu unzumutbaren Härten kommen. Für eine Beratung zu Chancen und Risiken eines „Kirchenasyls“ im konkreten Einzelfall sowie für die Begleitung durch das mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verabredete „Dossierverfahren“ können sich Kirchengemeinden an die zuständige Ansprechperson bei der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen wenden. Das Kirchenasyl stellt dabei nicht den Rechtsstaat in Frage. Kirchengemeinden leisten vielmehr einen Akt der Nothilfe und des Beistands bei der Durchsetzung eines Menschenrechts.
Foto: Ev.-luth. Kirchenkreis Uelzen