Himbergen. Als „Totenwald“ wurde die Göhrde im heißen Sommer 1989 schlagartig in ganz Deutschland bekannt: Zwei Pärchen waren kurz nacheinander in dem riesigen Waldgebiet grausam ermordet worden. Jahrelang mieden Touristen den Wald weiträumig. Die Taten sind bis heute nicht abschließend aufgeklärt.
Eine Cold-Case-Gruppe der Polizeidirektion Lüneburg ermittelt bis heute. Denn es gibt einen Tatverdächtigen, den einschlägig vorbestraften Kurt-Werner Wichmann, der sich 1993 in Untersuchungshaft erhängte. Aber er hatte vermutlich einen Komplizen, der noch frei herumlaufen könnte. Und das macht der Polizei Sorgen. Deswegen wird nach wie vor nach Beweismaterialien gesucht. Wichmann hatte auf seinem Lüneburger wie besessen Gegenstände vergraben – unter anderem einen kompletten amerikanischen Sportwagen, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit eine Leiche transportiert wurde. Aber auch Taschen, Kleidung, Säbel, Spritzen und vieles mehr. Möglicherweise sind einige dieser Gegenstände Beweismaterial für weitere Gewalttaten.
Wichmann, geboren 1949 im Landkreis Lüneburg, war schon als Jugendlicher wegen Sexual- und Gewalttaten verurteilt worden. 1968 wurde eine Frau in Lüneburg erschossen. Zeugen sahen einen Jugendlichen davonlaufen, auf den die Beschreibung Wichmanns passte. Er wurde aber nicht belangt. 1970 vergewaltigte er eine Anhalterin und wurde zu fünfeinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Als er mehrere Jahre mit einer deutlich älteren Frau in Karlsruhe zusammenwohnte, wurden dort in der Zeit mehrere Frauen ermordet, die Fälle sind bis heute nicht aufgeklärt. Wichmann galt im Bekanntenkreis als eitel und unnahbar. Er trug stets, auch im Sommer, lange Ledermäntel und Handschuhe. Blonde Föhnfrisur und Sonnenbrille waren weitere Markenzeichen des Mannes, der vielen Zeugen wegen seines durchdringenden Blicks in Erinnerung blieb.
Dass Wichmann überhaupt zum Verdächtigen im Fall Göhrde-Morde wurde, liegt an einem anderen Fall: Ebenfalls 1989 verschwand die Lüneburger Fotografin Birgit Meier spurlos. Zunächst stand ihr Ex-Mann, ein Unternehmer, unter Verdacht, der mit ihr eine hohe Abfindung für den Fall einer Trennung vereinbart hatte. Als die Polizei den Kreis möglicher Täter eingrenzte, kam auch Wichmann ins Visier, der inzwischen in Lüneburg als Friedhofsgärtner arbeitete. Er konnte sich mehrfach herauslügen. Dass er zum Zeitpunkt des Verschwindens von Birgit Meier krankgeschrieben war und seine Abwesenheit von seiner Arbeit nicht auffallen konnte, fiel damals bei den Ermittlungen nicht auf.
Doch damit war die Sache für Wichmann noch nicht gelaufen: Als 1993 eine neue Staatsanwältin in Lüneburg ihre Arbeit aufnahm, wurden die Ermittlungen im Fall Meier wieder aufgenommen. Und Wichmann stand plötzlich wieder ganz oben auf der Liste der Tatverdächtigen – weil er Birgit Meier bei einer Party kennengelernt hatte und seine Vorstrafen in eine eindeutige Richtung wiesen. Bei einer Durchsuchung seines Hauses am Stadtrand von Lüneburg fanden Ermittler unter anderem Kleinkalibergewehre, Folterwerkzeuge, Beruhigungsmittel und Elektroschocker. In das Haus waren überall geheime Räume und Fächer eingebaut worden. Eine Tür wies eine schalldichte Polsterung auf. Ein Paar Handschellen hatte eine Blutanhaftung.
Wichmann selbst floh vor der Durchsuchung. Eine Polizeistreife verhaftete ihn einige Tage später in Heilbronn, weil er Waffen im Auto hatte. Kurz darauf erhängte er sich in einer Arrestzelle mit seinem Gürtel. Weil gegen Tote nicht ermittelt wird, war der Fall offiziell erledigt. Doch Wolfgang Sielaff, Bruder der Verschwundenen Birgit Meier und inzwischen pensionierter Leiter des LKA Hamburg, gab nicht auf. Er scharte ein Experten-Team um sich und ermittelte auf eigene Faust weiter. Im September 2017 wurde Wichmanns Haus erneut untersucht. Dabei fand Sielaff eine Sammlung von Zeitungsartikeln über die Göhrde-Morde sowie die Aufzeichnung einer entsprechenden XY-Sendung. Eine Sammlung, die dem eitlen und selbstvernarrten Wichmann ähnlich sah. Und dann: In der Garage nahmen Sielaff und sein Team die Werkstatt-Grube unter die Lupe. Sie war verdächtig flach. Bei Grabungen wurde die Leiche Birgit Meiers gefunden. Sie war erschossen worden.
Damit galt der tote Wichmann wieder als Hauptverdächtiger bei den Göhrde-Morden. Mit neuen DNA-Untersuchungsmethoden konnte außerdem ermittelt werden, dass zwei Haare, die seinerzeit in einem Auto eines Göhrde-Mordopfers gefunden worden waren, Wichmann zuzuordnen sind. Die 2017 neu aufgestellte „Ermittlungsgruppe Göhrde“ geht davon aus, dass Kurt-Werner Wichmann und ein noch lebender Mittäter für diese und eine Vielzahl weiterer Morde im gesamten Bundesgebiet als Täter in Frage kommen könnten.
2018 krempelte die Ermittlungsgruppe das Wichmann-Haus sowie das große Grundstück komplett um. Im Zuge dieser Durchsuchungen wurde auch ein Zettel mit einer Hamburger Telefonnummer gefunden, dem zunächst große Bedeutung zugemessen wurde. Die Polizei bat die Bevölkerung um Unterstützung, um an ein Hamburger Telefonbuch des Jahres 1989 zu kommen. Tatsächlich konnte ein Bürger helfen. Das Telefonbuch wurde digitalisiert und ausgewertet. Doch inzwischen steht fest: Die Telefonnummer liefert keine brauchbaren Spuren. Die Suche nach einem Komplizen dauert an – denn der dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit ähnlich gefährlich sein wie Wiegmann selbst es war.
Foto (Polizei): Ein auf dem Grundstück des Verdächtigen gefundener Zettel mit einer Hamburger Telefonnummer galt als wichtige Spur – die aber ins Leere verlief.